HealthTechs #2: Rehabilitation und Nachsorge
In einer Blogreihe widmet sich das New Players Network den HealthTechs. Im zweiten Beitrag schauen sich unsere Autor:innen Pascale Ullmann und Max Krause Lösungen zur Rehabilitation und Nachsorge an.
Sommer, Sonne, Sportverletzung
Getränke sind kaltgestellt und die Steaks finden ihr Aroma in einer sorgsam komponierten Marinade. Eigentlich stehen die Zeichen gut für ein Grillfest, im Verlaufe dessen man mit Freunden und Familie die Lieblingsmannschaft in der Bundesliga anfeuert. Aber Moment. In der ganzen Vorbereitung ist wohl untergegangen, dass der Meister längst gekürt, die Schale übergeben und die Liga in der Sommerpause ist. Und da die Hitze in Qatar professionellen Fußball vor Anbruch der Nacht verhindert, ist zu allem Überfluss auch die WM in den Winter verschoben und kann hier nicht einspringen. Nun muss man vor lauter Schreck nicht gleich das Grillfest absagen, aber so ganz ohne Fußball genießt sich so eine Zusammenkunft doch etwas weniger.
„Naja“, denken sich die Gastgeber, „dann müssen wir eben selbst ran“. Louisa und Herbert waren schließlich richtige Knipser in der C-Jugend. In Windeseile ist der Rasen auf die englische Ideallänge gestutzt, gewässert und mit Rucksäcken als Pfosten präpariert. Gleich bei Eintreffen beginnen die Gäste also ihr persönliches WM-Finale und überspringen übermütig jede Aufwärmübung. Schnell wird klar, dass nicht nur das Ballgefühl von Louisa und Herbert unter den Jahren gelitten hat. Schon nach kurzer Zeit machen sich Schmerzen in Louisas Knie bemerkbar. Seit dem Skiunfall ist es leider nie vollständig ausgeheilt und so muss sie bald schmerzverzerrt vom „Feld“ humpeln. Auch für Herbert läuft es nicht besser. Bei seiner ehemaligen Spezialität – dem Zidane-Trick – verdreht er sich derartig, dass in seinem Büroarbeiter-Rücken nichts mehr in korrekter Stellung verbleibt. Für die beiden endet das Spiel ebenso spontan wie es entschieden wurde. Alle Beteiligten finden sich lädiert am Essenstisch zusammen und sondieren ihre schmerzenden Körper.
Vom kleinen Schmerz zum großen Problem
Die nächsten Tage sind für alle eine körperliche Tortur, die jedoch bald überstanden ist. Louisa und Herbert hat es hingegen schwerer getroffen. Louisa muss endlich ihr Knie auf Vordermann bringen. Herbert muss seinen Rücken und Fuß genauer checken lassen. Keiner von beiden weiß jedoch, wie man die Termine beim Arzt, Physiotherapeuten und Krankengymnastik mit dem engen Arbeitsalltag verbinden soll und entscheiden, das Problem zu vertagen. Als nach der Sommerpause passend zum Saisonstart erneut zum Grillfest und Fußballspielen eingeladen wird, müssen beide absagen, da ihre fortbestehenden Schmerzen jede sportliche Aktivität verhindern.
Mangelnde Alltagskompatibilität von herkömmlichen Therapie- und Rehabilitationsformen
So oder so ähnlich ergeht es einer Vielzahl deutscher Hobbysportler über den Verlauf des Jahres, die ihren Verletzungen auch aufgrund von Zeitmangel nicht die passende Behandlung zukommen lassen. Schmerzpunkte nehmen so an verschiedenen Stellen durch mangelnde Rehabilitation zu, reduzieren die Lebensqualität oder riskieren sogar Arbeitsausfälle und kostenintensive Therapien. Bereits kleine Sportunfälle können so zu schwerwiegenden körperlichen Einschränkungen und übermäßigen Belastungen des Gesundheitswesens anwachsen. Ein strukturelles Problem des aktuellen Gesundheitswesens besteht in der häufig mangelnden Alltagskompatibilität von herkömmlichen Therapie- und Rehabilitationsformen.
Der demographische Wandel stellt das Gesundheits- und Versicherungswesen auf die Probe. So ist vor diesem Hintergrund davon auszugehen, dass die Kosten für Rehabilitation der Arbeitsfähigkeiten in Zukunft kontinuierlich steigen werden. Neue Rehabilitationsmöglichkeiten mittels digitaler Anwendungen können diese nicht nur effizienter hinsichtlich der Genesungsprozesse, sondern auch der Kosten gestalten und liefern damit eine wichtige Antwort auf den demographischen Wandel.
Ich habe Rücken – Wie HealthTechs die physische Rehabilitation unterstützen
Digitale Anwendungen finden immer größeres Potenzial in der Nachsorge. Glücklicherweise lässt sich die Rehabilitation[1] dadurch immer bequemer durch Anwendungen diverser HealthTechs gestalten. Dadurch, dass die PatientInnen zu einem selbst gewählten Zeitpunkt und in einer selbst gewählten Umgebung die Angebote nutzen können, wird eine höhere Nutzerfreundlichkeit erreicht. Insbesondere für PatientInnen, die in strukturschwachen Regionen mit eingeschränkter Mobilität leben, kann dies einen absoluten Mehrwert bieten.
Im Feld der medizinischen Therapie und Prävention hat sich der neue Trend „Digital Therapeutics“ (DTx) entwickelt, der digitale Kommunikationsformen und Software nutzt, um den Zugang von Patienten zu Rehabilitation und Nachsorge zu erleichtern. Im Unterschied zu anderen Digital-Health-Anwendungen sind DTx-Produkte klinisch getestet, evidenzbasiert und zielen auf reelle Verhaltensänderungen bei ihren Nutzern ab. Mit Inkrafttreten des Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG)[2] in Deutschland im Dezember 2019 kam ein regelrechter DTx-Boom auf. Durch das Gesetz wurden Gesundheits-Apps erstattungsfähig und für PatientInnen flexibler und schneller nutzbar.
Die digitalen Therapieformen können durch Wearables und Kameras ergänzt und durch die Daten zur motorischen Ausführung der Übungen und Vitaldaten ausgewertet werden. Findet diese Dateninterpretation in Echtzeit statt, nähern sich die Leistungen von DTx-Anwendungen an die echter ÄrztInnen und TherapeutInnen an. Die häufig überlasteten Physiotherapien werden damit entlastet und VersicherungsnehmerInnen können die verschriebenen Therapien schneller in Anspruch nehmen.
Der Dachraum beheimatet eine Reihe erfolgreicher, fortgeschrittener HealthTechs die sich auf die Therapie des Bewegungsapparates konzentrieren. Um ein paar Beispiele zu nennen: Kaia Health (75 Mio. USD Series C 2021), Caspar Health (9 Mio. USD Series B 2021) oder Temedica (17 Mio. USD Series A 2020). Aber auch Start-ups, wie eCovery, Pelvintense und Curalie bieten patienten- und krankheitsspezifische Online-Therapien an, die sich leicht in den Alltag integrieren lassen. Durch KI-gestützte Verfahren können die Symptome analysiert, ein geeigneter Trainingsplan entwickelt und die korrekte Übungsausführung kontrolliert werden.
Die 2019 entwickelte App von eCovery spezialisiert sich auf die Begleitung des Genesungsprozesses bei Gelenk- und Rückenschmerzen unter anderem von Arthrose-Patienten. Auch die Knieschmerzen von Louisa können durch eCoverys Therapieformen behandelt werden. Die Diagnose, die sie von ihrem persönlichen Arzt, per Selbsteinschätzung anhand eines eCovery-Fragebogens oder der eCovery-Videosprechstunde erhalten hat, stellt die Grundlage für das erstellte Physioprogramm dar. Da sie die interaktiven Videotrainings von zu Hause aus durchführen kann, passen diese besser in ihrem Arbeitsalltag. Der Trainingserfolg wird in regelmäßigen Analysen ermittelt, bei dem Beweglichkeit und Schmerzniveau erfragt werden. Diese Informationen werden mit Louisas persönlichen Physiotherapeuten und Arzt geteilt, der den gesamten Prozess begleitet und den Trainingsplan auf Basis der Zwischenergebnisse anpasst. Von Prävention und Diagnose über Therapie bis kontrollierende Nachsorge kann die Online-Physiotherapie-Plattform damit nahezu die gesamte Patientenreise abdecken.
Mit der Spezialisierung auf Rückenschmerzen deckt eCovery einen großen Zielmarkt ab und hilft bei der Lösung der aktuell zentralen gesundheitlichen Probleme. So klagen laut Robert-Koch-Institut 60 Prozent der Deutschen im Verlaufe eines Jahres über Rückenschmerzen. Dies macht den Rücken zum zweithäufigsten Auslöser von Schmerzproblemen nach Kopfschmerzen.
Auch das 2017 in München gegründete Health-Start-up Medical Motion widmet sich diesen häufigen Schmerzursachen. So liefern ihre Anwendungen gezielte Behandlungen von Rücken- und Kopfschmerzen wie Bandscheibenvorfälle und Migräne. Darüber hinaus decken sie ein weites Feld körperlicher Probleme wie Kniearthrose und Fersensporn ab. Hiermit kann auch Herbert geholfen werden, der endlich seinen Rücken stärken will, weil dieser durch die ständige Schreibtischarbeit stark belastet wird.
Anhand von persönlichen Zielen, Krankenhistorie, persönlichen Lebensstils, Arbeitsumständen und Symptome wird ein personalisierter Trainingsplan in Echtzeit aufgestellt. Die App geht über die klassische Physiotherapie hinaus, indem sie auf Basis der Therapieerfolge immer wieder neue Übungen empfiehlt. Neben der KI-Analyse werden die erhobenen Daten durch medizinisches Fachpersonal ausgewertet, die auf Basis dessen ihre Diagnosen und Therapieempfehlungen besser auf Herbert zuschneiden können.
So wie eCovery hat sich auch Pelvintense auf ein bestimmtes Problem spezialisiert. Mit der App können beispielsweise Betroffene von Inkontinenz, Errektionsproblemen oder Beckenschmerzen ein regelmäßiges Beckenbodentraining absolvieren. Die Angebote sind gezielt auf Männer zugeschnitten. Durch eine erhöhte Achtsamkeit für und Stärkung des Beckenbodens können Patienten ihre Symptome lindern und ihre alltägliche Lebensqualität erhöhen.
Das Berliner E-Health-Unternehmen Caspar Health wurde 2016 gegründet, mit dem Fokus digitale Rehabilitationslösungen anzubieten. Mit einem zeit- und ortsunabhängigen Versorgungskonzept ermöglicht die App flächendeckende Therapieangebote insbesondere in der Nachsorge. Durch die enge Partnerschaft mit Rehakliniken können medizinische Einrichtungen die digitale Rehabilitationsklinik nutzen, um während und nach der Entlassung aus dem Krankenhaus, online die Angebote durchzuführen. Medizinisches Fachpersonal beutreut die NutzerInnen über integrierte Chat- und Videofunktionen und übernimmt beispielsweise die Tele-Reha-Nachsorge im Auftrag von Partnerkliniken und Kostenträgern. 2022 wurde ein weiterer Meilenstein für das Health Start-up erreicht: mit ihrer multimodalen Tele-Reha-Nachsorge wurde Caspar Health in die unbefristete Regelversorgung der Deutschen Rentenversicherung aufgenommen.
Bewahrung des kindlichen Übermuts
Das Einzige, was Louisa und Herbert nach diesen Erkenntnissen über die Möglichkeiten moderner DTx- Start-ups enttäuscht, ist, dass sie diese nicht bereits zum Zeitpunkt ihrer Verletzungen kannten. Mit ihrem aktuellen Wissen über digitale Therapieformen wären Louisa und Herbert sicherlich zum Start der neuen Saison bereit für ihre Einwechselung. Sowohl Louisas Knie als auch Herberts Rücken wären gestärkt, um sich bedenkenlos der nostalgischen Freude hingeben zu können. Durch zielgerichtete Rehabilitation kann damit nicht nur die körperliche Fähigkeit wiederhergestellt, sondern ebenso die ständige Sorge, um künftige Verletzungen der geschwächten Körperpartien reduziert werden. Sicherlich kann ein sorgsamer Umgang mit dem eigenen Körper viele Probleme vermeiden, doch die ständige Sorge vor möglichen Verletzungen kann zu mentalen Belastungen führen. Es gilt also, sich einen gewissen kindlichen Übermut und naive Freude am Ungewissen zu bewahren. Auch wenn sich Unfälle nie vollständig vermeiden lassen, stellen HealthTechs mit ihren Rehabilitationsprogrammen eine Möglichkeit dar, die negativen Konsequenzen einzudämmen und retten damit vielleicht auch das nächste Grillfest.
Körper, Geist und Seele
Die Rehabilitationsangebote von HealthTechs gehen bereits weit über die Betreuung physiologischer Beschwerden hinaus. Auch für Erkrankungen der mentalen Gesundheit und Einschränkungen neurokognitiver Funktionen bieten sie passgenaue Lösungen an. Mithilfe von DTx kann damit ein breites Feld von Erkrankungen therapiert werden. Da die mentale Gesundheit einen der wichtigsten Ursachen für Arbeitsausfälle und eine der zentralen gesundheitlichen Herausforderungen moderner Arbeits- und Lebensweise darstellt, möchten wir uns diesem Thema im dritten Blogbeitrag zu Health Techs ausführlich widmen.
[1] Als Rehabilitation wird die (Wieder)-Eingliederung eines körperlich oder geistig Erkrankten oder Behinderten in das berufliche und soziale Leben bezeichnet. Medizinisch geht es zur Erreichung dieses Ziels vor Allem um die Wiederherstellung der körperlichen und psychischen Fähigkeiten nach einem beeinträchtigenden Unfall oder einer Erkrankung.
[2] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/digitale-versorgung-gesetz.html